Ingeborg Bachmann
Mirjam
Woher hast du dein dunkles Haar genommen,
den süßen Namen mit dem Mandelton?
Nicht weil du jung bist, glänzt du so von Morgen –
dein Land ist Morgen, tausend Jahre schon.
Versprich uns Jericho, weck auf den Psalter,
die Jordanquelle gib aus deiner Hand
und lass die Mörder überrascht versteinen
und einen Augenblick dein zweites Land!
An jede Steinbrust rühr und tu das Wunder,
dass auch den Stein die Träne überrinnt.
Und lass dich taufen mit dem heißen Wasser.
Bleib uns nur fremd, bis wir uns fremder sind.
Oft wird ein Schnee in deine Wiege fallen.
Unter den Kufen wird ein Eiston sein.
Doch wenn du tief schläfst, ist die Welt bezwungen.
Das rote Meer zieht seine Wasser ein!
Nach dieser Sintflut
NEBELLAND
Im Winter ist meine Geliebte
unter den Tieren des Waldes.
Dass ich vor Morgen zurückmuss,
weiß die Füchsin und lacht.
Wie die Wolken erzittern! Und mir
auf den Schneekragen fällt
eine Lage von brüchigem Eis.
Im Winter ist meine Geliebte
ein Baum unter Bäumen und lädt
die glücksverlassenen Krähen
ein in ihr schönes Geäst. Sie weiß,
dass der Wind, wenn es dämmert,
ihr starres, mit Reif besetztes
Abendkleid hebt und mich heimjagt.
Im Winter ist meine Geliebte
unter den Fischen und stumm.
Hörig den Wassern, die der Strich
ihrer Flossen von innen bewegt,
steh ich am Ufer und seh,
bis mich Schollen vertreiben,
wie sie taucht und sich wendet.
Und wieder vom Jagdruf des Vogels
getroffen, der seine Schwingen
über mir steift, stürz ich
auf offenem Feld: sie entfiedert
Die Hühner und wirft mir ein weißes
Schlüsselbein zu. Ich nehm’s um den Hals
und geh fort durch den bitteren Flaum.
Treulos ist meine Geliebte,
ich weiß, sie schwebt manchmal
auf hohen Schuh’n nach der Stadt,
sie küsst in den Bars mit dem Strohhalm
die Gläser tief auf den Mund,
uns es kommen ihr Worte für alle.
Doch diese Sprache verstehe ich nicht.
Nebelland hab ich gesehen,
Nebelherz hab ich gegessen.
(für alfons)